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Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 10.02.2000
Aktenzeichen: 2 Ss 12/00
Rechtsgebiete: StGB
Vorschriften:
StGB § 315 c I Nr. 1 a | |
StGB § 315 c I Nr. 2 d | |
StGB § 316 |
Geschäftsnummer: 2 Ss 12/00 8005 Js 11820/99 jug. StA Trier
In der Strafsache
gegen
A G,geboren am in
- Verteidiger: Rechtsanwalt -
wegen Gefährdung des Straßenverkehrs
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Vonnahme sowie die Richter am Oberlandesgericht Pott und Henrich am 10. Februar 2000 einstimmig gemäß § 349 Abs. 4 StPO
beschlossen:
Tenor:
Auf die Sprungrevision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts - Jugendrichter - Bernkastel-Kues vom 3. November 1999 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Bernkastel-Kues zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Der Jugendrichter bei dem Amtsgericht Bernkastel-Kues hat den Angeklagten am 3. November 1999 der "tateinheitlich fahrlässigen Straßenverkehrsgefährdung infolge des Genusses alkoholischer Getränke und zu schnellen Fahrens an unübersichtlichen Stellen" schuldig gesprochen, ihm die Zahlung eines Geldbetrages auferlegt, seine Fahrerlaubnis entzogen, den Führerschein eingezogen sowie eine Sperrfrist von drei Monaten zur Wiedererteilung der Fahrerlaubnis bestimmt. Er hat folgende Feststellungen getroffen:
"Der Angeklagte besuchte am 03.06.1999 eine Viez-Party. Obwohl er ca. 5 Cola-Viez getrunken hatte und nach eigenen Angaben nicht mehr mit seinem Fahrzeug fahren wollte, befuhr er gegen 03.30 Uhr mit dem PKW der Mark VW Golf, amtliches Kennzeichen u.a. die Kreisstraße 42. Eine dem Angeklagten um 03.50 Uhr durch den Arzt Dr. entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 0,57 o/oo. Bei der Blutentnahme wurden durch den untersuchenden Arzt ausweislich des Untersuchungsberichts zwar keine Anhaltspunkte, die auf Alkoholeinfluß hindeuten, festgestellt. Der Angeklagte ging sicher geradeaus, die plötzliche Kehrtwendung wurde von ihm sicher durchgeführt, sowohl Finger-Finger-Probe als auch Nasen-Finger-Probe wurden sicher durchgeführt. Seine Sprache war deutlich, sein Bewußtsein klar, sein Denkablauf geordnet, sein Verhalten beherrscht und seine Stimmung unauffällig.
Nach der Entnahme der Blutprobe wurde der Angeklagte mit der Belehrung entlassen, erst am Morgen wieder ein Fahrzeug führen zu dürfen. Da er in der Nähe seiner Wohnung entlassen wurde und sein PKW ca. 10 km entfernt abgestellt war, wurde ihm seitens der kontrollierenden Polizeibeamten der Führer-, Fahrzeugschein sowie der PKW-Schlüssel belassen.
Gleichwohl ließ sich der Angeklagte in Kenntnis seiner Alkoholisierung zu seinem Fahrzeug fahren, um dieses selbst nach Hause zu fahren. Gegen 04.30 Uhr befuhr er die Kreisstraße 48 in der Gemarkung, wo er den von den ihn zuvor kontrollierenden Polizeibeamten geführten Streifenwagen überholte. Als der Angeklagte seinerseits die Polizei bemerkte, beschleunigte er sein Fahrzeug stark, um einer erneuten Kontrolle zu entgehen. Unmittelbar vor einer scharfen Rechts-Linkskurvenkombination schloß er auf den ordnungsgemäß vor ihm fahrenden PKW der Marke Toyota, des Zeugen auf und überholte diesen, wobei der Zeuge seinen PKW scharf nach rechts lenken mußte, um einen Unfall zu vermeiden. Aufgrund der gefahrenen Geschwindigkeit gelang es dem Angeklagten trotz einer eingeleiteten Bremsung nicht, dem Straßenbereich zu folgen. Vielmehr lenkte er seinen PKW in einen dort beginnenden Weinbergsweg, auch hier versuchte er mit einer Geschwindigkeit von etwa 100 km/h, den ihn verfolgenden Polizeifahrzeug zu entkommen. Nach etwa 1 km fuhr er in einer Kurve aufgrund nicht angepasster Geschwindigkeit geradeaus in ein Geländer, das auf einer Länge von etwa 10 m zerstört wurde und wodurch etwa 2000,-- DM Fremdsachschaden entstand. Der Schaden an dem Geländer wurde von dem Angeklagten zwischenzeitlich selbst repariert."
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt.
II.
Das Rechtsmittel hat einen jedenfalls vorläufigen Erfolg. Die getroffenen Feststellungen tragen die Verurteilung wegen Gefährdung des Straßenverkehrs weder nach § 315 c Abs. 1 Nr. 1 a noch nach Nr. 2 d StGB.
1. Das Amtsgericht hat eine relative Fahruntüchtigkeit des Angeklagten bejaht und ist - ohne dies näher zu begründen - von eine Blutalkoholkonzentration von mindestens 0,43 o/oo zur Tatzeit (4.30 Uhr) ausgegangen. Offensichtlich hat das Amtsgericht einen stündlichen Abbau von 0,2 o/oo zugrunde gelegt, so dass sich bei einer für 3.50 Uhr festgestellten Blutalkoholkonzentration von 0,57 o/oo für 4.30 Uhr eine Blutalkoholkonzentration von 0,43 o/oo ergibt (0,14 o/oo Abbau in 40 Minuten). Dies begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Der vorliegende Fall ist insofern atypisch, als nicht - wie in der Regel - aus einer festgestellten Blutalkoholkonzentration eine Blutalkoholkonzentration zu einem früheren Zeitpunkt zu errechnen ist. Vielmehr ist aus einer festgestellten Blutalkoholkonzentration die Blutalkoholkonzentration zu einem späteren Zeitpunkt zu ermitteln. Im erstgenannten Fall (Rückrechnung der Blutalkoholkonzentration auf einen früheren Zeitpunkt) ist zur Ermittlung der Fahrtüchtigkeit im Wege der Rückrechnung zugunsten des Täters von einem stündlichen Abbau von 0,1 o/oo auszugehen; jedoch sind, um bei längerer Resorptionsdauer jede Benachteiligung des Täters auszuschließen, die ersten zwei Stunden nach Trinkende grundsätzlich von der Rückrechnung auszunehmen (Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl. § 316 Rdnr. 8 d). Soll dagegen die Schuldfähigkeit des Täters zum Tatzeitpunkt ermittelt werden, so ist - wiederum zugunsten des Täters - von einem stündlichen Abbauwert von 0,2 o/oo und einem einmaligen Zuschlag von 0,2 o/oo auszugehen (Tröndle/Fischer, a.a.0., § 20 Rdnr. 9 f). Ursprünglich war die Rechtsprechung von einem Abbauwert von 0,29 o/oo ausgegangen. Dieser Wert führt nach gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen jedoch bei längeren Rückrechnungszeiten zu irrealen Ergebnissen (Gerchow/Heifer/Schewe/Schwerd/Zink, Blutalkohol 1985, 77, 81, 90, 92). Dagegen sind bei kurzen Rückrechnungszeiten höhere Maximalrückrechnungswerte als 0,29 o/oo nicht auszuschließen (Gerchow u.a. a.a.0.). Deshalb geht die Rechtsprechung seit Jahren von einem Abbauwert von 0,2 o/oo pro Stunde und einem einmaligem Zuschlag von 0,2 o/oo aus (BGH NStZ 1986, 114; Tröndle/Fischer, a.a.0. § 20 Rdnr. 9 f m.w.N.).
Für den vorliegenden Fall bedeutet dies:
Da die für den Angeklagten günstigste Blutalkoholkonzentration zu ermitteln ist, ist von einem stündlichen Abbauwert von 0,2 o/oo und einem einmaligen Zuschlag von 0,2 o/oo auszugehen. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn zwischen Blutentnahme und Tatzeit nur ein kurzer Zeitraum liegt (BayObLG, Blutalkohol 1989, 288), da der mögliche Konzentrationsabfall pro Stunde um so höher zu erwarten ist (bis über 0,3 o/oo pro Stunde hinaus), je kürzer die Rückrechnungszeit und je näher sie am Trinkende gelegen ist (Gerchow u.a., a.a.0., S. 81). Die Situation ist vergleichbar mit dem Fall, dass aus einer festgestellten Trinkmenge die Fahrtüchtigkeit festgestellt werden soll. Auch dann beträgt der maximale stündliche Abbauwert 0,2 o/oo zuzüglich eines Sicherheitszuschlages von 0,2 o/oo (BGH VRS 71, 363). Feststellungen zum Trinkende hat das Amtsgericht im Übrigen nicht getroffen.
Ausgehend von den dargelegten Richtwerten ergibt sich eine Blutalkoholkonzentration von 0,23 o/oo (0,57 - 0,2 - 0,14) zur Tatzeit. Im Bereich unter 0,3 o/oo kommt jedoch regelmäßig die Annahme einer relativen Fahruntüchtigkeit nicht in Betracht, vielmehr setzt die Annahme einer relativen Fahruntüchtigkeit in der Regel die Feststellung einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 0,3 o/oo voraus (BGH VRS 49, 429; 21, 54; OLG Saarbrücken ZfS 1999, 356; OLG Köln NZV 1995, 454, NZV 1989, 357; BayOBLG DAR 1989, 427; OLG Koblenz VRS 45, 118). Ob im Einzelfall auch bei einer Blutalkoholkonzentration unter 0,3 o/oo eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit bejaht werden kann (so BayObLG StVE Nr. 94 zu § 316 StGB), mag offen bleiben. Denn an die einzelnen Beweisanzeichen für die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit und an die Gesamtwürdigung sind in einem solchen Fall strenge Anforderungen zu stellen. Insoweit fehlt es an hinreichenden Feststellungen in dem angefochtenen Urteil. Außer der Fahrweise des Angeklagten hat das Amtsgericht keine Feststellungen getroffen, die auf eine alkoholbedingte Enthemmung hindeuten könnten. Auch für den Arzt, der um 3.50 Uhr die Blutentnahme durchgeführt hatte, ergaben sich bei der Untersuchung des Angeklagten keine auf einen Alkoholeinfluss hindeutenden Anhaltspunkte.
Nach allem kommt die Annahme einer relativen Fahruntüchtigkeit aufgrund der getroffenen Feststellungen nicht in Betracht. Zwar kann es im Einzelfall durchaus möglich sein, von den oben dargestellten Richtwerten abzuweichen. Insoweit bedarf der Tatrichter jedoch der Hilfe eines Sachverständigen (vgl. statt vieler: OLG Koblenz NZV 1988, 69) und er hat die maßgeblichen Erwägungen im Einzelnen im Urteil nachvollziehbar darzulegen (OLG Hamm NJW 1974, 1433).
2.
Auch die Verurteilung gemäß § 315 c Abs. 1 Nr. 2 d StGB hält einer Überprüfung nicht stand. Die von dem Amtsgericht getroffenen Feststellungen tragen die Annahme einer konkreten Gefährdung nicht. Eine solche ist anzunehmen, wenn nach allgemeiner Lebenserfahrung aufgrund objektiv nachträglicher Prognose die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache von bedeutendem Wert durch das Verhalten des Täters so stark beeinträchtigt ist, dass es nur noch vom Zufall abhängt, ob die Rechtsgutverletzung eintritt oder nicht (vgl. OLG Koblenz NZV 1993, 403; BGH NStZ 1985, 263). Zur Verhinderung einer ausufernden Anwendung der Vorschrift sind dabei an die tatrichterlichen Feststellungen strenge Anforderungen zu stellen. Das Vorliegen einer hochgradigen Existenzkrise für die bedrohten Rechtsgüter ist präzise und nachvollziehbar zu belegen; "inhaltsleere" und eher wertende Begriffe wie z.B. "Notbremsung", "Vollbremsung" oder "scharfes Abbremsen" sind im Hinblick auf die ungenügende Aussagekraft zu vermeiden. Nachvollziehbar beschrieben werden kann die Gefahrenlage indessen durch möglichst konkrete Angaben zum Fahrverhalten des Fahrzeugs, zu Reaktionen des Fahrers und zu wahrnehmbaren Veränderungen des verkehrstypischen Geschehensablaufs, wozu bei einem starken Bremsvorgang beispielsweise etwa quietschende Reifen, Ausbrechen, Schlingern oder Schleudern des Fahrzeugs, das Umherfliegen von Gegenständen im Fahrzeuginneren oder das Ansprechen von Sicherheitsgurten gehören können (vgl. OLG Düsseldorf NZV 1994, 37, 38; Beschlüsse des Senats vom 28. März 1995 - 2 Ss 24/95 -, vom 13. August 1996 - 2 Ss 231/96 -, vom 9. November 1997 - 2 Ss 286/97 - und vom 2. September 1998 - 2 Ss 232/98 -).
Gemessen an diesen einengenden Kriterien hat das Amtsgericht das Vorliegen einer hochgradigen Existenzkrise, bei der der Eintritt eines Unfalls nur noch vom Zufall abhing (vgl. OLG Düsseldorf a.a.0.), nicht in ausreichender Weise dargetan. Denn über die Feststellung hinaus, dass der Zeuge "seinen PKW scharf nach rechts lenken musste, um einen Unfall zu vermeiden", enthält das Urteil keine nähere Beschreibung des Überholvorgangs, die dem Revisionsgericht das Bestehen einer konkreten Gefährdung des Zeugen in vorbezeichnetem Sinne greifbar und anschaulich hätte vor Augen führen können. Zwar hat der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 30. März 1995 betont, die Anforderungen an die Annahme einer konkreten Gefahr dürften im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes gegen Straßenverkehrsgefährdungen nicht überspannt werden, und es als bedenklich bezeichnet, wenn tatrichterliche Entscheidungen allein deshalb als rechtsfehlerhaft beanstandet würden, weil sie sich entsprechend den Angaben der Tatzeugen mit der Beschreibung wie etwa dem der Notwendigkeit einer "Vollbremsung" begnügten, wenn gefordert werde, der Tatrichter dürfe nur deskriptive Begriffe verwenden, es müssten z.B. die Geschwindigkeiten der beteiligten Fahrzeuge in km/h und die Entfernungen in Metern präzise angegeben werden. Denn durch das Ansinnen, sich auf zahlenmäßig genaue Angaben wie z.B. zu Entfernungen, Geschwindigkeiten und Bremsverzögerungen festzulegen, seien Zeugen regelmäßig überfordert. Dem Interesse des Angeklagten am Schutz vor Falschbelastungen und Fehlverurteilungen könne nicht durch Aufstellen unerfüllbarer Anforderungen an die Präzision von Zeugenaussagen Rechnung getragen werden (vgl. BGHR StGB § 315 c Abs. 1 Nr. 1 a Gefährdung 3). Bezogen auf den hier zu beurteilenden Sachverhalt geben diese Überlegungen indessen zu anderer rechtlicher Bewertung keinen Anlass. Denn es ist nicht ersichtlich, dass es eine unerfüllbare Anforderung an die Aufnahme- und Wiedergabefähigkeit des Zeugen dargestellt hätte, den Überholvorgang durch die Mitteilung von Details der oben aufgezeigten Art konkreter und plastischer zu beschreiben.
Aus den dargelegten Gründen kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben. Der Senat hält es nicht für ausgeschlossen, dass in einer künftigen Hauptverhandlung weitergehende Feststellungen getroffen werden können. Die Sache ist deshalb gemäß § 354 Abs. 2 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Für die neue Verhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
Sollte das Amtsgericht erneut eine relative Fahruntüchtigkeit des Angeklagten feststellen, so kann die auch für § 315 c Abs. 1 Nr. 1 a StGB erforderliche konkrete Gefährdung auch daraus hergeleitet werden, dass er an dem Geländer einen Schaden von 2.000 DM angerichtet hat. Die Wertgrenze liegt insoweit bei ca. 1.500 DM (vgl. Tröndle/Fischer, a.a.0., § 315 Rdnr. 16). Eine Verurteilung gemäß § 315 c Abs. 1 Nr. 2 d StGB kann hierauf jedoch nicht gestützt werden, da insoweit ein rücksichtsloses Verhalten gegenüber einem anderen Verkehrsteilnehmer von vornherein ausscheidet.
Ende der Entscheidung
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